Jubiläen 2022
225 Jahre "Hermann und Dorothea"
Goethes Epos und Emmendingen
Seit seinem Erscheinen anläßlich der Berliner Michaelismesse 1797 als "Taschenbuch für das Jahr 1798" ist die Frage nach dem Schauplatz von Goethes "Hermann und Dorothea" nie verstummt. Eine Reihe von Städten, darunter auch Emmendingen, nehmen den Ruhm für sich in Anspruch, dafür Modell gestanden zu haben. Der Dichter selbst hat diese Frage nie beantwortet. »Als ob es nicht besser wäre" - soll er gesagt haben - "sich jede beliebige Stadt zu denken! Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie!" Auch wir Emmendinger sollten uns nicht mehr, wie früher so oft geschehen, darauf versteifen, in unserer Stadt den alleinigen Schauplatz dieses Werkes zu sehen. Sicher empfing Goethe hier entscheidende Anregungen, aber sich festzulegen, hatte ein Mann wie er doch bestimmt nicht nötig. Die Handlung, zu der ihm eine salzburgische Emigrantengeschichte aus dem Jahre 1732 als Vorlage diente, die er aber durch eigene Erlebnisse aus der gerade gegenwärtigen Zeit der Französischen Revolutionskriege anreicherte, verlegte er allerdings in ein rechtsrheinisches Landstädtchen.
Und was liegt näher, darin unser Emmendingen wiederzuerkennen!
Welcher Art waren denn die Beziehungen Goethes zu Emmendingen? Hans Zippel hat sie in einem Nachwort zur Emmendinger „Hermann und Dorothea"-Ausgabe des Goethe-Jahres 1949 (erschienen im damals hier ansässigen Dehio-Verlag) anschaulich beschrieben: »Emmendingen wurde 1774 zweite Heimat seiner einzigen, geliebten Schwester Cornelia, deren Gatte - Goethes Jugendfreund Johann Georg Schlosser - bis 1787 dort als Oberamtmann, d. h. als maßgeblicher und einflußreichster Beamter des sogenannten Oberamtes Emmendingen gewirkt hat. Zweimal hat Goethe Emmendingen besucht: das erstemal vom 27. Mai bis zum 5. Juni 1775, vermutlich um den jungen Haushalt kennenzulernen und sich des Glücks zweier Menschen zu freuen, die seinem Herzen besonders nahestanden. In diesen Tagen mag der alte Freund und neue Schwager, der in seinem Amt eine überaus rege und segensreiche Tätigkeit entwickelte, ihn bis ins Einzelne mit seinem Wirkungskreis, der Stadt und ihren Menschen bekanntgemacht haben. Daß Goethe gern in Emmendingen und in dem seinem geliebten Straßburg so nahe benachbarten Badener,Ländle' geweilt, bezeugt ein Brief, den er damals an Charlotte von Stein geschrieben hat. ,Eine glückliche Gegend' - so lesen wir darin - ,noch im September alles grün und kaum hie und da ein Buchenblatt gelb. Die Weiden noch in ihrer silbrigen Schönheit, ein milder, willkommener Atem durchs ganze Land. Trauben mit jedem Schritt und Tag besser. Jedes Bauernhaus mit Reben bis unters Dach, jeder Hof mit einer großen, vollhängenden Laube. Wollte Gott, wir wohnten hier zusammen, mancher würde nicht so schnell im Winter einfrieren und im Sommer austrocknen. Der Rhein und die klaren Gebirge in der Nähe, die abwechselnden Wälder, Wiesen und gartenähnlichen Felder, machen dem Menschen wohl und geben mir eine Art Behagens, das ich ' lange entbehre'.
Als Goethe damals von Emmendingen und dem gastlichen Schlossersehen Hause schied, ahnte er nicht, daß er Cornelien nicht wiedersehen würde. Sie starb bereits zwei Jahre danach, am 8. Juni 1777, und als der Dichter am 28. September 1779 wieder einmal in die Gegend kam, konnte er in Emmendingen zwar den Freund und Schwager in die Arme schließen; die Schwester aber ruhte schon auf dem Friedhof, wo man ihr Grab in liebevoller Pflege der Stadt noch heute findet. Goethe soll dann später noch ein drittes Mal dort gewesen sein - anno 1793. Gelegentlich der Reise, die ihn als Begleiter seines Herzogs auf den damaligen Kriegsschauplatz im Westen führte und ihm Gelegenheit bot, das Elend der vielen Flüchtlinge aus den von Krieg und Revolution heimgesuchten linksrheinischen Gebieten mit eigenen Augen zu schauen."
Diesen dritten Besuch Goethes hat Rosa Hagen, die Lokalhistorikerin früherer Jahre, einleuchtend belegt. Sie war es auch, die in jahrelanger mühevoller Kleinarbeit alle einschlägigen Fakten zu unserem Thema zusammengetragen hat. Ihr Werk „Emmendingen als Schauplatz von Goethes Hermann und Dorothea", 1912 bei der Druck- und Verlagsgesellschaft Emmendingen erschienen, gibt davon Zeugnis. Die wichtigsten Übereinstimmungen sind (wieder zitiert nach Zippel): das Wirtshaus zum Löwen am Markt, davor der alte Brunnen, gegenüber das Haus des reichen Kaufmanns, dicht dabei die Apotheke, die Tore und Türme, ja selbst das schon zu Goethes Zeit gerühmte Pflaster, eines der vielen Verdienste Schlossers um Emmendingen. Weder fehlen die Weingärten, noch die neue Straße, noch mancherlei anderes, das Goethe dem Städtchen seiner Dichtung zuschreibt. Als nahezu zwingend aber ist aus der langen Kette der Beweisstücke eines hervorzuheben: " ... die wasserreichen verdeckten / Wohlverteilten Kanäle, die Nutzen und Sicherheit bringen, / Daß dem Feuer sogleich beim ersten Ausbruch gewehrt sei." Diese Kanäle kann Goethe nur im Badner Land gesehen haben, denn anderswo gab es sie nicht. »Stadtbächle" heißt sie der Volksmund. Und man geht gewiß nicht fehl in der Annahme, daß diese ebenso anmutige wie praktische Einrichtung auch Goethe aufgefallen ist und gefallen hat.
Liest man „Hermann und Dorothea" einmal eigens daraufhin durch, meint Zippel, so wird man noch so manche Betrachtung, so mancherlei kleine Züge finden, die auf ganz bestimmte persönliche Eindrücke und Erlebnisse des Dichters schließen lassen. Sie alle lassen sich ohne Zwang auf Emmendingen beziehen. Bedenkt man nun noch, daß der Schauplatz des Epos nur im Westen, nahe dem Rhein, nahe dem Elsaß zu suchen ist, so könnte Emmendingen sehr wohl in Betracht kommen.
Im Lauf der Jahre waren die Emmendinger Schauplätze von Goethes „Hermann und Dorothea" mancherlei Wandlungen unterworfen. Die meisten von ihnen haben heute naturgemäß ein völlig anderes Aussehen (z. B. der Matktbrunnen). Einige sind sogar ganz verschwunden (Stadtbächle, Weinberge). Größere eränderungen stehen in nächster Zeit für den Raum Löwen - Stadtapotheke bevor. In dem Zusammenhang wurde der Stadt von verschiedenen Seiten vorgeworfen, sie unternehme nichts zur Erhaltung ihrer
Goethe-Stätten. Diese Kritik ist nicht berechtigt. Man hat sich hierorts stets bemüht, die
richtige Synthese zwischen dem verpflichtenden Erbe der Vergangenheit und den ebenso zwingenden Anforderungen der Gegenwart zu finden. Der Marktplatz in seiner heutigen Gestalt liefert dafür den Beweis. Nicht immer jedoch ist es möglich, das Alte in der vorliegenden Form nur um seiner selbst willen zu erhalten. Sicher wird auch im gegenwärtigen Falle zusammen mit dem Staatlichen Amt für Denkmalspflege der richtige Weg gefunden werden, zumal die Bauherrschaft zugesagt hat, an einer vernünftigen Lösung mitzuwirken. ·
Mag man also den „Schauplatz von Goethes Hermann und Dorothea" getrost umgestalten!
Die Erinnerung an den großen Dichter, sein Werk und seine Beziehungen zu Emmendingen wird bei uns trotzdem in Ehren gehalten werden!
Ernst Hetzel
Emmendinger Heimatkalender 1973, Seiten 59- 61